Damals und heute: Indigene Sprachen in den USA

Früher waren indigene Sprachen in den USA weit verbreitet, heute ist ein Großteil von ihnen ausgestorben. Die übriggebliebenen tragen weiterhin zur linguistischen Vielfalt des Landes bei.
indigene Sprachen in den USA

Wie viel von der Kultur der amerikanischen Ureinwohner verloren ist, lässt sich wahrscheinlich nicht in Zahlen ausdrücken. Einige Organisationen versuchen dennoch, das Ausmaß des Verlusts zu erfassen, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen. So konstatiert Greg Andersen, Leiter von Living Tongues, in einem Interview mit National Geographic von 2009, dass in Oregon heutzutage nur noch fünf Sprachfamilien existieren – mit jeweils nur einer Handvoll Sprecher –, im Vergleich zu ehemals 14 vor 2000 Jahren. Letzteres seien mehr als sämtliche europäische Sprachfamilien zusammen, fügt er hinzu. Der Stand um die indigene Sprachen in den USA ist daher wichtiger denn je.

„Mit den Sprachen sind auch viele andere wichtige Errungenschaften ihrer Sprecher verschwunden, wie einige der großartigsten mündlich überlieferten literarischen Werke – zum Beispiel die mehrsprachigen Performances mit mehreren Charakteren, die verschiedene Sprachen sprechen –, die im Raum des Nordwestpazifiks entdeckt wurden“, erzählt Anderson. „Die hochentwickelten und detailliert choreographierten Tänze, die Teil dieser mündlichen Tradition sind, verschwinden ebenfalls immer rascher. Ein Großteil des regionalen Wissens über Flora und Fauna, den Umgang mit Ökosystemen, regionale Ortsbezeichnungen und spirituelle Werte wird unterdrückt, verfremdet und letztendlich verdrängt, weil die Sprachen, in denen es aufgehoben ist, nicht mehr existieren oder nicht mehr verstanden werden.“

Laut der Columbia Encyclopedia gab es zur Zeit von Christoph Kolumbus’ Ankunft in Amerika mehr als 15 Millionen Sprecher von über 2000 indigenen Sprachen in der gesamten westlichen Hemisphäre.

Dem Indigenous Language Institute zufolge wurden mehr als 300 indigene Sprachen in den USA gesprochen. Heute sind noch um die 175 davon übrig. Es wird geschätzt, dass diese sich bis 2050 auf lediglich 20 gesprochene Sprachen reduzieren, wenn sie nicht geschützt werden. Wenn du eine Sprache lernst, wird deine Wahl üblicherweise davon abhängen, mit wie vielen Menschen du diese Sprache sprechen kannst.

Wie konnte es überhaupt dazu kommen?

Der Einfluss europäischer Siedlungspolitik ist ein tragisches Kapitel in der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner, ihrer Kultur und ihrer Sprache. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren bereits zwei Drittel aller indigenen Sprachen in den USA (dazu gehören Nord-, Zentral- sowie Südamerika) entweder ausgestorben oder kurz davor. So ist in Nordmexiko die Hälfte aller indigenen Sprachen verschwunden, und die, die noch übrig sind, werden von weniger als insgesamt 1000 Sprechern gesprochen.

Als die Europäer mit der Besiedlung des amerikanischen Kontinents begannen, brachten sie Krankheiten wie Pocken und Masern mit sowie eine Siedlungspolitik, die die Vertreibung und Ermordung der amerikanischen Ureinwohner beinhaltete. Dabei waren sie in sämtlichen Bereichen im Vorteil: sowohl was die Immunität gegen die europäischen Krankheiten anging, als auch was die Ausrüstung mit Waffen und Pferden betraf. Sogar die Verbreitung der Krankheiten, die geschätzte 75 % bis 90 % der Ureinwohner dahinrafften, geschah nicht zufällig; einige Siedler gaben den Ureinwohnern absichtlich Decken, die aus Quarantänegebieten oder von infizierten Patienten stammten.

Nach Jahrhunderten voller Kriege und anderer Grausamkeiten – unter anderem systematischer, vom Staat abgesegneter Völkermord von 1846 bis 1873, im Zuge dessen zwischen 9.000 und 16.000 kalifornische Ureinwohner ermordet wurden – war die indigene Bevölkerung nur noch ein Schatten ihrer selbst. Seit der Ankunft von Kolumbus 1492 bis zum Jahr 1900 sank die Zahl dieser Menschen Schätzungen zufolge von ehemals zehn Millionen auf weniger als 300.000.

Natürlich ist das Verschwinden der zahlreichen indigenen Sprachen in den USA mehr als eine mathematische Konsequenz. Amerikanische Ureinwohner wurden durch scheinheilige Verträge und schlicht mit Gewalt systematisch aus den Landstrichen ihrer Urahnen vertrieben. Sie wurden in abgelegene und räumlich sehr begrenzte Gebiete zusammengepfercht, sogenannte Reservate. Ab den 1860er-Jahren wurden sie zudem zu staatlich verordneter kultureller Assimilation gezwungen. Dies wurde vor allem in Schulen durchgesetzt, in denen die Kinder weder ihre Stammessprachen sprechen noch ihre Stammeskleidung tragen oder ihren Glauben praktizieren durften.

Was ist heute noch übrig?

Angaben der American Community Survey zufolge gibt es heute trotz aller Widrigkeiten noch um die 150 nordamerikanische indigene Sprachen in den USA, die von mehr als 350.000 Menschen gesprochen werden. Das sind circa 43 % aller 350 in den USA gesprochenen Sprachen.

Obwohl die meisten dieser Sprachen kurz davor sind, auszusterben, halten einige von ihnen eisern durch. So ist die Sprache der Navajo die am meisten verbreitete nordamerikanische indigene Sprache mit einer Sprecherzahl von fast 170.000. Darauf folgt Yupik, die in Alaska gesprochen wird, mit einer Sprecherzahl von 19.750.

Trotzdem sprechen die meisten amerikanischen Ureinwohner heutzutage Englisch. Von den insgesamt 2,5 Millionen Ureinwohnern, die 2016 erfasst wurden, sprechen 73 % der über Fünfjährigen Englisch. Das bedeutet einen leichten Zuwachs im Vergleich zu den 72,2 % von 2010.

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Indigene Sprachen in den USA: Bemühungen um die Erhaltung

Es gibt mittlerweile diverse Programme und Initiativen zur Erhaltung dieser wertvollen Sprachen und des Wissens, das sie mit sich führen. Dies ist das Ergebnis eines langen und beschwerlichen Weges, auf dem endlose Hindernisse überwunden und Finanzierungen errungen werden mussten, um die Souveränität der einzelnen Stämme wiederherzustellen.

Die Herausforderungen, die an indigene Sprachen in den USA gestellt werden, sind zahlreich. Zum einen sind die Sprachen, von denen hier die Rede ist, sehr verschiedenartig. Die Annahme, alle Sprachen amerikanischer Ureinwohner seien aus einer einzigen Protosprache hervorgegangen, wie dies bei der Indogermanischen Sprachfamilie der Fall ist, ist ein weit verbreiteter Irrglaube. Zudem beruhen viele indigene Sprachen zum Großteil auf mündlicher Weitergabe, und viele der bereits sehr wenigen Niederschriften wurden zerstört. Aufzeichnungen von vor 1850 sind rar gesät.

Dennoch arbeiten viele Initiativen unverdrossen weiter. Native Languages of The Americas zum Beispiel ist eine gemeinnützige Organisation, die sich besonders mithilfe von Onlinetechnologien der Bewahrung von indigenen amerikanischen Sprachen widmet. Ihre Website bietet eine leicht verständliche Sammlung von Materialien und Onlineressourcen über Sprachen und Kulturen der amerikanischen Ureinwohner.

Enduring Voices ist ein Programm in Zusammenarbeit mit Living Tongues, das indigene Sprachen lebendig zu halten versucht. So haben sie den Winnemem Wintu die Technologie und das entsprechende Training zur Verfügung gestellt, um Video- und Audioaufzeichnungen in ihrer Sprache anfertigen zu können.

2010 wurde an der Stony Brook University ein Programm ins Leben gerufen, das sich in Zusammenarbeit mit zwei indigenen Stämmen für die Wiederbelebung von Shinnecock und Unkechaug einsetzt; zwei Sprachen, die seit über 200 Jahren nicht mehr gesprochen wurden. Dafür nutzen sie unter anderem eine Vokabelliste, die 1791 von Thomas Jefferson angefertigt wurde.

2009 veröffentlichte The Guardian eine Aufzählung von Gruppen, die sich aktiv für die Wiederbelebung ihrer Sprachen einsetzen. Darunter ist der Stamm der Arapaho, der eine Schule gegründet hat, in der die Kinder in ihrer Stammessprache unterrichtet werden. Andere Stämme in der Region Great Lakes haben Colleges eröffnet, an denen Kurse in indigenen Sprachen angeboten werden. Und in Oklahoma hat das Comanche Language and Cultural Preservation Committee ein Wörterbuch und Sprachkurse entwickelt sowie Lieder in der Sprache der Comanche aufgenommen.

Die Chancen, indigene Sprachen in den USA durch flächendeckende Verbreitung zu ihrer alten Pracht zu verhelfen, sind sicherlich verschwindend gering. Doch Hoffnung findet sich in den kleinen Dingen, zum Beispiel in der Erzählung des Leiters des CLCPC, Ronald Red Elk, von einem kleinen Comanche-Mädchen, dessen erstes Wort nicht mother war, sondern pia, das Wort für „Mutter“ in der indigenen Comanche-Sprache.

Indem wir Sprachen sprechen, halten wir sie lebendig.
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