Gibt es eine Sprachgrenze zwischen Ost- und Westdeutschland?

Der deutsche Sprachraum ist ein bunter Flickenteppich aus verschiedenen Dialekten. Aber welche Sprachgrenze verläuft zwischen Osten und Westen?
Bild einer Hand mit Kompass zum Thema Sprachgrenze zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland

Sprachliche Unterschiede gibt es in Deutschland viele – doch wie ist das eigentlich mit der Sprachgrenze zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland? Während Deutschland auf mehr als 30 Jahre Wiedervereinigung zurückblickt, herrscht in sprachlicher Hinsicht alles andere als Einheitlichkeit: Von der Nordsee bis zu den Alpen werden zahlreiche Dialekte gesprochen, die teilweise so unterschiedlich sind, dass es nicht selten zu Verständigungsproblemen kommt. So wird ein Mensch aus Berlin wahrscheinlich Mühe haben, einem Gespräch auf einem bairischen Dialekt oder auf Schwyzerdütsch zu folgen, obwohl es sich um ein und dieselbe Sprache handelt.

Aber gibt es neben den Unterschieden zwischen Nord und Süd auch eine sprachliche Grenze zwischen Ost und West? Genau das wollen Sprachwissenschaftler mithilfe einer Online-Datenerhebung herausgefunden haben. Hier gehen wir der Sache auf den Grund.

Was ist eine Sprachgrenze?

Sprachgrenzen verlaufen nicht zwingend entlang von Ländergrenzen, sondern können häufig mitten durch ein Land oder einen Sprachraum führen – so auch im Fall des Deutschen. Eine Sprachgrenze, auch Isoglosse genannt, ist eine Linie in einem Sprachatlas, die die Grenze zwischen zwei verschiedenen Varianten eines sprachlichen Merkmals markiert. Das kann sowohl eine unterschiedliche Aussprache sein („das“ vs. „dat“) als auch verschiedene Bezeichnungen für ein und dasselbe („Junge“ vs. „Bub“). Manchmal fallen die Grenzen für mehrere Merkmale zusammen: Die Grenze für „das“ vs. „dat“ ist zum Beispiel die gleiche wie für „ich“ vs. „ik“ oder „haben“ vs. „hebben“. In diesem Fall spricht man von einem Isoglossenbündel.

Sprachgrenze: Apfel oder Appel?

Die deutschen Dialekte werden hinsichtlich ihrer lautlichen Entwicklung in oberdeutsche (süddeutsche), mitteldeutsche und niederdeutsche (norddeutsche) Dialekte eingeteilt. „Ober-“ hat hier nichts mit Standardsprache zu tun, sondern bezieht sich auf das bergige Hochland des Südens, „nieder-“ hingegen auf die ebene Landschaft des Nordens. Dabei haben sich zwei Isoglossenbündel etabliert, die die Dialektregionen voneinander abgrenzen: Die Speyerer Linie trennt das Oberdeutsche vom Mitteldeutschen und wird auch Appel-Apfel-Linie genannt. Warum? Weil die mitteldeutschen Dialekte im Gegensatz zu den süddeutschen die zweite Lautverschiebung nicht vollständig mitgemacht haben und so zum Beispiel der Laut [p] in „Appel“ nicht wie beim Oberdeutschen zu [pf] wurde. Die Benrather Linie trennt wiederum das Mitteldeutsche von den niederdeutschen Dialekten, die dem Wandel von [k] zu [ch] in Wörtern wie „ich“, „kochen“ und „machen“ getrotzt haben. Aus diesem Grund nennt man diese Sprachgrenze auch maken-machen-Linie.

Beide Sprachgrenzen verlaufen dabei mehr oder weniger von West nach Ost, trennen also den Norden vom Süden. Aber gibt es auch eine sprachliche Grenze, die zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland verläuft?

Die Pfannkuchen-Eierkuchen-Linie

Basierend auf den Teinehmerdaten einer Online-Umfrage fand ein Team von Sprachwissenschaftler:innen heraus, dass mehrere Isoglossen beinahe exakt entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze verlaufen. Es handelt sich hier jedoch weniger um Ausspracheunterschiede als vielmehr um die Verwendung unterschiedlicher Ausdrücke.

Ein besonders deutliches Beispiel ist die Verbreitung von „Pfannkuchen“ und „Eierkuchen“: Bis auf wenige regionale Abweichungen wie „Plinse” (Sachsen) oder „Omelett“ (Oberfranken/Hessen) sagt man in den alten Bundesländern „Pfannkuchen“, in den neuen Bundesländern hingegen „Eierkuchen“. Ganz zu schweigen von der extra verwirrenden Tatsache, dass „Pfannkuchen“ in Ostdeutschland jenes Krapfengebäck heißt, das im Westen als „Berliner“ bekannt ist.

Generell ist man sich in puncto Speisen in Ostdeutschland und Westdeutschland uneinig: Ein Bällchen aus Fleisch heißt in Ostdeutschland „Bulette“ (von franz. boulette = „Bällchen“), im Westen hingegen „Frikadelle“ (von lat. frigere = „rösten“), wohingegen man sich im Süden lieber das „Fleischküchle“ bzw. das „Fleischpflanzerl“ schmecken lässt. Was in den westlichen Bundesländern als „Brathähnchen“ verspeist wird, kennt man in der ehemaligen DDR unter dem Namen „Broiler“ (vom französischen brûler = „brennen“).

Durch Deutschland führt also von Norden and Süden die Pfannkuchen-Eierkuchen-Linie. Aber sind kulinarische Begriffe der einzige sprachliche Unterschied zwischen Ost und West?

Sprachgrenze: Sag mir, wie spät es ist …

Auch in Sachen Uhrzeit ist die deutsche Nation offenbar gespalten. Während man in Ostdeutschland 11:15 Uhr und 11:45 Uhr mit „Viertel zwölf“ und „Dreiviertel zwölf“ angibt, sagt der Westen Deutschlands „Viertel nach elf“ und „Viertel vor zwölf“. Doch halt! Der ganze Westen? Nein, denn in fast ganz Baden-Württemberg und einem Teil Bayerns macht man es wie im Osten. Da dieser sprachliche Unterschied ja eigentlich jede Menge Potenzial für Missverständnisse und verpasste Termine in sich birgt, würde man erwarten, dass allmählich eine Variante zugunsten der anderen aufgegeben wird und diese Sprachgrenze langsam, aber sicher verschwimmt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Ein Vergleich mit älteren Sprachdaten zeigt, dass es bei der Uhrzeitangabe ebenso wie beim Pfannkuchen-Eierkuchen-Paradigma seit den 1970er Jahren so gut wie keine Veränderungen gab. Beide Sprachgruppen halten an ihrer jeweiligen Variante fest.

Sind Dialekte beständig?

Angesichts der vielen Dialekträume des Deutschen kann man sich natürlich fragen: Ist die Beständigkeit der Sprachgrenze zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland denn etwas Besonderes? Die Antwort lautet: Ja und nein. Nein, weil sich bis heute viele dialektale Unterschiede gehalten haben, denn was sich jahrhundertelang entwickelt hat, wird eben – zumindest in der gesprochenen Variante – nicht komplett von heute auf morgen in die Tonne geworfen. Andererseits lassen sich sehr wohl Tendenzen zur Vereinheitlichung von regionalen Ausdrücken beobachten. Ein Beispiel sind die Begriffe „pöhlen“ (Ruhrgebiet) und „bäbbeln“ (Sachsen) für „Fußball spielen“, die zunehmend dem überregionalen „bolzen“ weichen. In der Sprachwissenschaft nennt man dieses Phänomen Dialektnivellierung, also die Verringerung dialektaler Vielfalt durch zunehmende Standardisierung der Sprache oder durch Anpassung an andere Dialekte.

In unserer vernetzten Welt ist die Abschwächung dialektaler Unterschiede kaum verwunderlich, schließlich sind die Menschen zunehmend mobil, wechseln den Wohnort, pendeln durch ganz Deutschland und unterhalten sich mit Sprechenden aller Dialektregionen. Klar, dass es dabei so etwas wie eine sprachliche Anpassung gibt, die sich zulasten der einzelnen Dialekte auswirkt. Wieso also halten sich die sprachlichen Unterschiede gerade entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze so hartnäckig?

Sprache und Identität

Die Autoren der Sprachstudie erklären sich das Phänomen der Sprachgrenze zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland folgendermaßen: Ausdrücke wie „Bulette“, „Eierkuchen“ oder „Viertel“ bzw. „Dreiviertel“ wurden zum Ende der DDR als nationale Varianten gesehen, die der Sprache der BRD gegenüberstanden. Nach dem Mauerfall wurden diese Begriffe möglicherweise zu sprachlichen Symbolen für eine ostdeutsche Identität, die Sprechende auch heute noch mit Stolz nach außen tragen.

Ob dies tatsächlich der Grund für die Pfannkuchen-Eierkuchen-Linie ist, oder ob diese ebenso dem sprachlichen Wandel unterworfen ist und man bald überall in Deutschland Pancake sagt, sei dahingestellt. Sicher ist: Die vielen Dialekten und sprachlichen Unterschiede machen Deutsch zu einer spannenden und vielfältigen Sprache mit einem unglaublich großen Wortschatz, bei dem selbst Muttersprachler:innen immer wieder Neues entdecken können.


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Sarah Waldmann

Am Bodensee mit multidialektalem Hintergrund aufgewachsen, beherrscht Sarah mittlerweile mehr als nur Schwäbisch und rudimentäres Plattdeutsch: Nach Abi und Andenabenteuern zog sie nach Berlin und studierte dort Spanisch und Portugiesisch. Einige Auslandaufenthalte auf der Iberischen Halbinsel später forscht sie nun zu Spracherwerb und schreibt als freie Autorin über Sprachen, Gott und die Welt.

Am Bodensee mit multidialektalem Hintergrund aufgewachsen, beherrscht Sarah mittlerweile mehr als nur Schwäbisch und rudimentäres Plattdeutsch: Nach Abi und Andenabenteuern zog sie nach Berlin und studierte dort Spanisch und Portugiesisch. Einige Auslandaufenthalte auf der Iberischen Halbinsel später forscht sie nun zu Spracherwerb und schreibt als freie Autorin über Sprachen, Gott und die Welt.